Warum wir Weihnachten doch brauchen
Stell dir vor, du würdest einen großen Radiergummi nehmen und würdest damit all die vielen Lichter in den Fenstern ausradieren. Auch die Beleuchtung in der Innenstadt wäre damit aus dem Stadtbild getilgt und alle Dekorationen von Rentieren, Weihnachtssternen und dickbäuchigen Männern mit Zottelbärten wären fort. Was würde von Weihnachten dann noch übrig bleiben? Was ist es, das uns in Stimmung versetzt? Die alljährliche Musik im Radio und die Adventswünsche, die im Verlauf des Dezembers zu Neujahrswünschen übergehen? Was bedeutet diese Zeit wirklich für dich und wie drückst du diese Bedeutung in deinem Leben aus? Wozu brauchen wir eigentlich noch Weihnachten?
"Es geht nur um den Konsum." sagen die nüchternen Stimmen beim Blick auf das Treiben in den letzten Wochen des Jahres. "Mit dem Ursprung hat das Ganze nichts mehr zu tun." bemerken die kritischen Beobachter. Egal wie es sich über die letzten 2000 Jahre verändert hat: Es ist jedes Jahr wieder Weihnachten. Wir können unsere Zeit damit verbringen uns darüber aufzuregen, dass es ja völlig jenseits der Bedeutung stattfindet und zerknirscht über unsere Glühweintasse blicken, deren Inhalt noch viel zu heiß ist um ihn zu trinken. Das ist eine Möglichkeit, Weihnachten zu verbringen. Die andere Möglichkeit aber ist eine generelle Kunstform: Mach etwas daraus - egal aus was!
>>Reflektion ist Entschleunigung<<
Dabei darf man gerne den Kitsch mit besagtem Radiergummi ausradieren - die grundsätzliche Struktur der Feiertage bietet uns aber viele Möglichkeiten um glücklich zu sein. Wem die Zeit vor dem heiligen Wiegenfest zu hektisch ist, der darf sich gerne außen vorhalten - denn der Puls der Tage kann ohne weiteres an einem vorbeipulsieren wenn man das möchte. Vielleicht kann man selbst einen Raum finden in all dem Gedränge um mal innezuhalten, ist diese Zeit doch die beste um abseits des Alltags zu existieren. In der Ruhe liegt Kraft und das kann zu einem Aufbruch führen. Oder man nutzt die Feiertage um das Jahr oder sogar das ganze Leben mal Revue passieren zu lassen. Reflektion ist Entschleunigung, der Kehrbesen, der nach der Hektik der vergangenen Monate wieder Ordnung bringen kann.
Es ist auch die Zeit, sich endlich wieder mal mit seinen eigenen Gefühlen zu beschäftigen. Solche, die das ganze Jahr über zu kurz kamen, die wir verdrängt haben, weil sie nicht zur Effektivität des Schaffens beigetragen hätten oder schlichtweg im Sommer unpassend waren - weil da ja alles leicht sein soll. Vielleicht kann man aber auch hier einen Faden wieder aufgreifen und sich mit Menschen aussprechen - nicht nur weil eben Weihnachten ist - sondern weil man sich die Zeit nehmen kann, besonders wenn es um Menschen aus direkten Umgebung wie der Familie oder enge Freunde geht. Wenn es kalt draußen ist und die Kamine brennen können wir vielleicht etwas näher zusammenrücken und offener miteinander sein. Womöglich ist die Gelegenheit auch deshalb günstig, weil man mit dem Kopf nicht schon wieder in den nächsten Projekten steckt und überhaupt keine Kapazität dafür hat zuzuhören.
>>Manchmal braucht es einen Anlass<<
Die Tage zwischen den Jahren sind magisch, weil sie wie keine andere Zeit Ende und Anfang verbinden. Theoretisch können wir an jedem Tag im Jahr einen Neustart wagen, doch ein Anlass hat Dingen schon immer eine andere Gewichtung gegeben. Vielleicht hast du dir schon lange keine Gedanken mehr darüber gemacht, wer du sein möchtest und wohin dein Weg gehen soll - wäre es nicht eine tolle Gelegenheit, wie ein Kapitän den Kurs seines Schiffs zu kontrollieren und gegebenenfalls fein zu justieren? Kein Vorsatz, mehr ein Wechsel um zwei Grad, der sich egal wie klein auf eine große Strecke deutlich auswirkt. Im Eifer des Arbeitsjahres bleibt doch diese Anpassung auf der Strecke - zu oft müssen wir funktionieren und dann wird gerne so oft kaschiert, bis sich die grundlegende Form verändert.
Was sind wir also, wenn wir diesen groben Putz entfernen? Was sind unsere Werte, wenn wir sie doch mal unter der Kalkschicht hervorgeholt haben? Gelten unsere Prinzipien noch oder sind sie doch wie alles der Änderung unterworfen, die leise kommt wie Schneeflocken und doch nach und nach dicht aneinandergereiht über Nacht eine neue Welt hervorbringen? Diese Tage können zu einer Zeit des Loslassens werden, von alten Erwartungen, Enttäuschungen nicht mehr relevanten Regeln und Zielen. All der Ballast auf unserer Schulter, den wir vielleicht am Ende gar nicht brauchen, aber bei jedem Schritt spüren. Und dann kann man den Blick ins Jetzt nehmen, nicht mehr nach hinten oder vorne schauen und sehen ob man doch die ganze Zeit über hätte glücklich sein können.
Ich möchte diese Zeit für all diese Dinge nutzen und dankbar sein. Das Hamsterrad dreht sich dann zwar für kurze Zeit nicht weiter, aber vielleicht ist am Ende der Drähte ja gar keine kleine Glühbirne, die wir damit zum Leuchten bringen müssen, sondern einfach nur zwei blanke Enden, die aus der Ummantelung hervorschauen. Es wäre toll zu entdecken, worum es mir wirklich geht, welche Dinge tatsächlich wichtig sind und was der Unterschied zu den Dingen ist, die ich für wichtig halte. Es ist wie ein langer, ehrlicher Blick in den Spiegel in dessen Verlauf wir uns über beide Ohren angrinsen dürfen. Das wünsche ich mir zu Weihnachten: Klarheit in meinem Leben wie kalte Dezemberluft und das wohlige Gefühl, wieder ganz sicher zu wissen, wie mein Weg weitergeht.
Es gibt viele Möglichkeiten, wie man Weihnachten nutzen kann. Mach dir also selbst ein Geschenk und halte für möglich, dass es auch dich bereichern kann. Dann darfst du auch sehr gerne Dekoration und Lichter leuchten lassen, das Radio aufdrehen und mitsingen, Geschenke aufreißen und überreichen, Mistelzweige aufhängen und hoffen, dass dich jemand küsst. Dann sag ja zum Kitsch. Jeder Glitzer ist okay, wenn du das Fundament darunter genauso feiern kannst. Frohe Weihnachten, alles alles Liebe und viel Spaß beim Blick in deinen Spiegel.