So kannst du fair urteilen statt verurteilen
"Guck mal der da!" Man hört das Tuscheln schon aus einigen Metern Entfernung und wenn ich das hören kann, dann kann das auch derjenige, der gemeint ist. Überall sind sie zu finden, abschätzige Blicke, Gespräche hinter vorgehaltener Hand, ein Lachen auf Kosten einer anderen. Wir sind sehr schnell darin zu verurteilen. Doch sollte man sich wirklich ein Urteil erlauben, wenn man gar nicht alle Fakten und Umstände kennt? Was sagt es über uns aus? Und wie wäre folgende Idee: Ab jetzt lieber fair urteilen als verurteilen!
Zugegebenermaßen ist es manchmal witzig, über andere zu sprechen. Kuriose Kleidung, Frisur und Make-Up, die vor 30 Jahren mal der letzte Schrei waren. Niemand kann von sich behaupten, es wäre nicht manchmal amüsant über andere zu urteilen. Interessant wird es, wenn wir uns mal genau anschauen, warum es uns so belustigt. Der Reflex über jemanden zu lachen ist der gleiche wie bei der Schadenfreude: Es ist die Erleichterung, dass wir nicht diese Person sind. Es gibt uns das Gefühl besser, moderner, klüger und attraktiver zu sein. Diese Prozesse passieren natürlich unter der Oberfläche und können keiner Person wirklich vorgeworfen werden. Wir lernen nur etwas über uns selbst, wenn wir uns dabei ertappen, gerade über andere zu urteilen. Vielleicht fühlen wir uns zurzeit nicht so wohl in unserer Haut, sind neidisch auf einen Kollegen oder eifersüchtig auf die neue Physiotherapeutin unseres Mannes. Womöglich läuft es auch im Job nicht gut oder uns zwickt irgendein anderer kleiner Selbstzweifel.
>>Was wir über andere sagen, sagen wir noch mehr über uns selbst<<
Wenn ich in Vorträgen über Schönheit spreche und die Menschen um Handzeichen bitte, wer von sich selbst behaupten würde schön zu sein, melden sich höchstens 1% der Zuschauer:innen. Wir haben also anscheinend richtig viel Grund dafür, uns selbst nicht so toll zu finden und genießen die kleinen Augenblicke der heilen Welt mit uns selbst, wenn wir über andere urteilen können. Doch das funktioniert auch anders herum: Finden wir eine Person sehr attraktiv, zu attraktiv, lachen wir lauthals über jedes Missgeschick, das ihr passiert, weil es uns hilft, uns nicht so dermaßen unterlegen zu fühlen. Wie wir über andere sprechen, sagt oft viel mehr darüber aus, wie wir selbst von uns denken. Diese Gleichung lässt sich auch an anderen Stellen finden - ich habe zum Beispiel noch nie ein glückliches "Arschloch" getroffen. Ein glücklicher Mensch neidet niemandem etwas. Jede Form von Missgunst oder Hass auf eine Person liegt in einer starken Emotion begründet - manchmal für das Gegenüber, doch viel häufiger für uns selbst.
Dieses Wissen hilft uns nicht nur bessere Menschen zu werden, indem wir selbst immer wieder unser Verhalten hinterfragen können, es ist ein gutes Werkzeug, um mit böswilliger Kritik oder mit bösen Kommentaren umzugehen. Kein Mensch, der sich selbst respektiert und liebt und sein Leben selbstbestimmt und frei lebt, schreibt Hass-Kommentare in Internetforen, unter Posts oder Videos. Begegnen wir Menschen, die feindselig sind, so wissen wir in der Konfrontation von den wahren Gründen für ihr Verhalten. Auch Sexismus und Rassismus bauen auf einem niedrigen Selbstbewusstsein auf. Warum sollte man zum Beispiel Frauen diskriminieren wollen? Doch nur, weil man Angst hat, dass sie einen überflügeln könnten. Der Mensch ist so getrieben von seiner Angst, dass ihm jemand etwas wegnimmt oder seine Postion gefährdet, dass er pauschal urteilt und sich somit seine Gesinnung bildet.
>>Niemand kennt die ganze Wahrheit<<
Wir können bei uns selbst beginnen und anfangen, fair zu urteilen statt zu verurteilen. Uns sind die Hintergründe bei den meisten Menschen nicht bekannt, wir sind nie in ihren Schuhen gelaufen und auch wir haben Dinge an uns, die für andere ein Grund wären, uns zu verurteilen. Fair urteilen bedeutet, dass wir versuchen können, niemanden in Schubladen zu stecken und ihnen Eigenschaften aus objektiven Gesichtspunkten anzudichten. Zu respektieren, dass hinter Lebensentscheidungen Schicksale und Traumata stehen und akzeptieren, dass man niemandem schlechten Geschmack oder andere Prioritäten wirklich ernsthaft vorwerfen kann. Es ist alles eine Frage der Perspektive und niemand kennt wirklich die ganze Wahrheit. Oder glaubst du wirklich, dass deine Meinung die einzige ist, die legitim ist? Stell dir stattdessen die Frage: Handelt dieser Mensch böswillig, um anderen zu schaden? Betrifft mich das Aussehen dieser Person persönlich? (Spoiler: NEIN!) Schränkt es mich in meiner Freiheit ein, wenn jemand anders lebt als ich es selbst tue?
Fair urteilen heißt auch falsches, ignorantes oder diskriminierendes Verhalten zu bemerken und anzuprangern. Wir können die nun freigewordene Energie dafür verwenden für andere einzutreten, Aussagen zu korrigieren und anderen zu helfen, eine neue, nicht diskriminierende Perspektive zu gewinnen. Wir müssen nicht tolerieren, wenn jemand anderen schadet - wir dürfen unser Urteilsvermögen einsetzen, um herauszufinden ob Aussagen und Verhalten böswillig sind oder darauf basieren, dass die anderen es einfach nicht besser wissen oder noch nicht eine andere Sichtweise kennenlernen konnten.
Doch damit das funktioniert, dürfen wir auch über uns selbst fair urteilen. Über das ein oder andere Kilo, das sich in einer herausfordernden Zeit auf den Po geschlichen hat, über die Leistung, die wir erbracht haben und das Ziel, das wir vielleicht verpasst haben. Wir dürfen selbst Verständnis für uns haben und uns nicht ständig vor uns selbst oder anderen runtermachen. Am Ende ist es Selbstliebe, die die Welt besser macht. Selbstliebe und die Art, wie wir durch sie mit der Welt und den Menschen umgehen, die das große Ganze bilden.