Gibt es ein Leben vor dem Tod?
In einem Moment lebst du und im nächsten Moment bist du tot. Du stolperst über einen Hund und fällst mit dem Kopf gegen eine Tischkante oder du guckst ein Video auf YouTube während du die Straße überquerst. Der Fahrer hat dich zu spät gesehen und du wirst zu einer Galionsfigur der Motorhaube eines SUV. Schachmatt. Basta, rien ne va plus. So oder so ähnlich könnte man sein Leben verlieren, jeden Tag. Oder man ist einfach tot, völlig unerwartet und weniger spektakulär aber genauso dramatisch.
Was jetzt vielleicht zynisch klingt, ist eigentlich nur eine jeden Tag gelebte Realität, überall auf der Welt. Da sind wir alle gleich und müssen uns nichts vormachen. Ob ich Angst vor dem Tod habe? Diese Frage zu beantworten würde bedeuten, noch weitere 40 Jahre lang darüber nachzugrübeln um dann auch nicht ganz sicher zu sein. In manchen Momenten ja - doch eigentlich ist es mehr das Sterben an sich wegen dem ich Bedenken habe. Ist man erstmal durch diese dunkle Türe gegangen, ist in der Regel Schicht im Schacht. Keine Schmerzen mehr, aber auch keine Türklinke auf der anderen Seite. Wenn jetzt nicht jemand gerade eine Herzdruckmassage vollführt oder einen Defibrillator auf meinem Brustkorb abfeuert, dann war‘s das eben. Was danach kommt? Gibt es ein Leben danach? Nun. Wäre ich Brillenträger, so würde ich sie nun effektvoll auf meiner Nase zurechtrücken und dich bedeutungsschwer ansehen. Dabei geht es mir um eine ganz andere Frage: Gibt es ein Leben vor dem Tod?
Mit Leben meine ich nicht die Dinge, die die Wissenschaft damit in Verbindung bringt: Stoffwechseln, Vermehrung und CO2-Produktion. Mir geht es um das wirkliche Leben; all jene Erfahrungen, Entscheidungen und Erlebnisse über die die Poeten schreiben, Musiker singen und die Maler für die Ewigkeit auf Leinwand gebannt haben. Die Dinge, für die es sich zu leben lohnt. Ich glaube es ist so: Für unser Lebensglück ist nicht zwangsläufig entscheidend zu erfahren wie es biologisch funktioniert zu leben, sondern aus welchem Grund wir es genießen am Leben zu sein. Was wir machen aus dieser Zeit zwischen Wiege und Grab, die lauten uns leisen Momente, die Farben und der Geruch von Sommerregen auf Asphalt.
>>Wir starten mit Dankbarkeit<<
Wir können uns unser Leben wie ein Ein-Meter-Maßband vorstellen. 100 Zentimeter für 100 Lebensjahre. Sich das vor Augen zu halten kann zwar wehtun, weil wir schon einen bedeutenden Teil davon hinter uns gebracht haben - es gibt uns aber eine ganz neue Mission, der wir uns jeden Tag stellen können: Wie kann ich das Beste daraus machen? Möglicher erster Schritt: Hör auf, auf den Mangel zu achten, sondern richte deinen Blick auf die Fülle. Ständig zu untersuchen an was es uns fehlt, ist wie sich freiwillig eine Suppenkelle ins Gesicht zu dreschen. Das kannst du schon machen, aber es tut halt einfach weh. Die Dinge, die in unserem Leben gut sind - die Menschen, die sonnigen Tage, Musik und Poesie, unsere Rituale - verdienen es, dass wir sie beachten. Wir starten also mit Dankbarkeit.
Wenn du beim Sport aus dem letzten Loch pfeifst und dich schon dafür verfluchst, dich für eine Joggingrunde entschieden zu haben erinnere dich daran, wie toll es ist, dass du laufen kannst. Dass dir deine Beine gehorchen, dich tragen - in guten und schlechten Zeiten, an duftende und stinkende Orte. Nur weil du jetzt nicht eine neue Marathon-Bestzeit laufen kannst oder dir nach zehn Minuten schon die Luft wegbleibt ist es nicht weniger ein Wunder, zu was dein Körper fähig ist. Dankbarkeit bedeutet, die Wunder als Wunder anzuerkennen. Nur dann können sie nämlich geschehen.
Um uns herum ereignen sich jeden Tag viele schreckliche Dinge. Kriege im nahen Osten, Tierversuche in der Kosmetikindustrie, nur damit sich Courtney-Alexandra einen neuen Lipgloss kaufen kann oder auch die fragwürdigen Outfit-Entscheidungen deiner Kolleg:innen. Ziemlich viel läuft falsch. Doch wenn du genau hinschaust, dann siehst du eben auch die guten Dinge. Menschlichkeit, Blüten an den Bäumen und die Art, wie sich die Lippe deines Kindes im Schlaf kräuselt. Es ist toll, wenn du das sehen und anerkennen kannst.
Noch besser wird es aber, wenn du beginnst, diese Dinge zu dokumentieren. Schreib sie in ein Tagebuch, fotografiere sie oder erzähle deinen Freund:innen davon und speichere sie so für die Ewigkeit. Wunder lassen sich gut am Leben erhalten und werden plötzlich wie durch Zauberei allgegenwärtig. Geschehen dann wirklich so viel mehr gute Dinge? Nein, aber dein Blick hat sich verändert.
>>Wie willst du dich selbst sehen?<<
Was bemerkst du als erstes, wenn du in den Spiegel schaust? Lass mich raten: die Dinge, die du nicht an dir magst. Fällt dir was auf? Auch hier ist es in deiner Macht, dich von nun an anders zu sehen. Mach dich auf die Suche nach den Dingen an dir, die du am Schönsten findest. Ist es deine besondere Augenfarbe oder deine Sommersprossen, die immer dann in Erscheinung treten, wenn du deine Nase ein bisschen in die Sonnenstrahlen gereckt hast? Wenn du mit dir selbst glücklich sein willst, dann kannst du eine Entscheidung treffen: Achte ich auf die Makel (und die sind immer da wo man sie sucht) oder geht es mir um einen liebevollen Blick? Denk an das Maßband: Wie willst du dich selbst sehen - für den Rest deines Lebens?
Ich weiß, dass zu diesem Argument viele sagen werden: »Da kann ich mich ja gleich selbst verarschen.« Genau diesen Satz habe ich schon zu oft gehört. Meine Antwort darauf ist ganz einfach: Ja. Entscheide dich ob du glücklich sein willst oder nicht. Wenn der Preis hierfür ist, sich die Welt - widewidewitt - zu machen wie sie dir gefällt, dann ist das doch nur ein kleiner Obolus den wir gerne bezahlen sollten, findest du nicht? Ich meine damit ja auch nicht, sich alles einfach nur schönzureden - mir geht es darum, sein Denken einer größeren Sache zu widmen. Denn Liebe ist die zärtliche Betrachtung deiner kleinen Fehler.
Die meisten Bücher, die man im Ratgeberregal findet haben mit Selbstliebe zu tun. Im Grunde die simple Erkenntnis, dass man froh ist, den Rest seines Lebens (die restlichen Zentimeter des Maßbands) mit sich selbst verbringen zu dürfen. Klingt das nicht toll? Im Übrigen muss ich bei diesem Thema immer an den Religionsunterricht in der Schule denken, bei dem ich immer über den altbekannten Satz gestolpert bin:
"Lieb deinen nächsten wie dich selbst."
Schon als Kind hatte ich den Verdacht, dass die meisten Menschen diesen Satz falsch verstehen. Mir wurde immer beigebracht, dass es dabei um die Nächstenliebe geht - ich glaube, es ist genau anders herum - oder hast du schon viele Menschen getroffen, die sich selbst so lieben können, wie sie es bei einem:r Partner:in oder ihren Kindern tun? Das scheint ein ganz neues Licht auf unsere Selbstwahrnehmung: Können wir es schaffen, uns selbst all diese kleinen Zärtlichkeiten zu schenken, uns verzeihen wenn wir mal etwas gehörig vergeigt haben und uns lieben und ehren, bis dass der Tod uns aus den Socken haut?
>>Keine Angst vor dem Tod<<
Mit einem neuen, bewussten Blick sind wir also gerüstet, das Beste aus unserer Zeit zu machen. Denn haben wir Frieden mit uns geschlossen, so haben wir unser Zuhause überall dabei wohin wir auch immer gehen. Kannst du bei diesen Zeilen schon die Aufregung in deinem Bauch spüren? Das Abenteuer auf deiner Zunge schmecken? Hast du denn so etwas wie eine Löffel-Liste? Eine Sammlung an Dingen, die du gerne erleben würdest bevor du den Löffel abgibst?
Der nächste Schritt auf unserer Erkenntnisreise könnte nämlich sein, dass wir uns Ziele setzen. Das können auch kleine Dinge sein: eine Sprache lernen, schaffen, dass Zimmerblumen nicht immer sofort das Zeitliche segnen oder ein neuer Kleidungsstil. Das Leben kann zu einem Abenteuerspielplatz werden, wenn wir es lassen. Da gibt es nämlich auch die großen Punkte auf dieser Liste, die die Menschen so gerne haben - Fallschirmspringen etwa oder einen Sonnenaufgang am Grand Canyon sehen, einen Baum pflanzen, ein Haus bauen und Kinder in die Welt setzen. Es gibt dabei nur eine Regel: Diese Wünsche müssen tief aus dir selbst kommen.
Ein bisschen Vorsicht ist aber geboten: zu hohe Ziele können uns unter Druck setzen. Ein erfülltes Leben braucht nicht zwangsläufig alle diese Dinge - wichtig ist nur, dass du es auf deine ganz eigene Art machst. Du kannst auch lediglich in Büchern auf Bärenjagd gehen und die Welt bereisen, wenn das genau dein Weg ist.
Am Ende ist und bleibt es immer eine Entscheidung und der Rahmen der Möglichkeiten unserer Privilegien. Wem die Welt nicht genug ist, der hat das Glück nicht verstanden. Du hast die Freiheit dir vorzunehmen was du auch willst, solange du auf dem Weg dorthin Spaß hast. Wer Freude auf der Strecke hat, dem ist nicht wichtig ob er sein Ziel erreicht, denn am Ende ist es so, wie der Text begonnen hat: In einem Moment lebst du und im nächsten Moment bist du tot. Es geht nur um die Zeit dazwischen, die ein Fest sein darf. Ein Tanz aus Pflicht, Freiheit und Konsequenz, bei dem du gerne die Führung übernehmen darfst. Kann sein, dass man dir mal auf die Füße tritt, aber die Musik, die Woge der Begeisterung, die dich mitreißen kann, ist es wert sich eine Blase zu tanzen.
Dies ist das Zeichen auf das du gewartet hast - der Deal den du mit dir selbst gemacht hast. Die Erlaubnis verrückt zu sein, über die Stränge zu schlagen und die Taube auf dem Dach ganz leise auf deine Hand zu locken.
Egal ob du morgen oder in 80 Jahren deinen letzten Atemzug machst: Atme tief und bewusst ein. Jeden Moment aufs neue. Hab keine Angst, Zeit zu vergeuden mit dem was einfach nur Spaß macht - sie hat dir ohnehin nie wirklich gehört. Wir alle leben zur Miete. Ich glaube, ich habe keine Angst vor dem Tod. Ich muss vielmehr dafür sorgen, keine Angst vor meinem Leben zu haben.